Harald Martenstein kannte mal eine Sekretärin


Sekretärinnen? Ich soll was über Sekretärinnen schreiben? Wieso? Macht ihr jetzt der Reihe nach alle Berufe durch

Ich kannte mal eine Sekretärin. Nein, ich war nicht mit ihr zusammen, sie war meine Sekretärin. Wenn ich morgens ins Büro kam, habe ich "Guten Morgen" gesagt. Sie hat den Gruß nur erwidert, wenn sie gut drauf war. Ansonsten hat sie durch mich hindurchgeschaut. Das hat mich belastet. Jawohl, so was belastet mich. Wenn ich schreiben musste, habe ich mein Telefon ausgeschaltet. Es tut mir sehr leid, aber ich kann nicht gleichzeitig schreiben und telefonieren. Dann liefen die Gespräche automatisch im Sekretariat auf. Immer wenn jemand für mich anrief, kam die Sekretärin in mein Büro und sagte zum Beispiel vorwurfsvoll: "Die Akademie der Künste hat für Sie angerufen, aber Sie gehen nicht ans Telefon." Ich antwortete: "Ich bin grad am Schreiben, fragen Sie bitte, worum es geht, notieren Sie die Nummer, ich rufe zurück." Die Sekretärin knallte die Tür zu. Fünf Minuten später kam sie wieder ins Büro und sagte mit aggressiver Stimme: "Die Akademie der Künste hat schon wieder angerufen, es ist dringend. Warum gehen Sie nicht ans Telefon?" Ich rief die Akademie an. Sie überprüften gerade ihren Postverteiler und wollten wissen, ob meine Adresse sich geändert hat. Ich ging zu der Sekretärin und sagte, dass ich einen Leitartikel über die Lösung der wichtigsten Weltprobleme schreiben müsse und noch 40 Minuten Zeit habe. Wenn jemand anrufe, solle sie meinetwegen sagen, dass ich gestorben sei. Die Sekretärin schrie: "Für Leute wie euch sind wir Sekretärinnen nur Schmutz." Dann fing sie an zu weinen. Ich sagte, nein, um Gottes willen, tut mir leid, und tröstete sie. Ich fragte sie, wie der letzte Urlaub war. In Wirklichkeit hätte ich die Sekretärin in diesem Moment am liebsten umgebracht.

Nach ein paar Minuten schluchzte sie nur noch. Da bin ich schnell zurück zu dem Leitartikel. Die Tür ging auf, die Sekretärin kam herein, völlig ruhig, keine Spur mehr von dem Nervenzusammenbruch gerade eben, und sagte: "Der Betriebsrat sammelt für die Abschiedsfeier von Hauptredakteur Heimlich. Wie viel geben Sie?" Ich habe sie angeschrien. Das gebe ich zu. Sie hat zurückgeschrien: "Sie sind kein Mensch. Sie nicht. Hauptredakteur Heimlich ist ganz anders als Sie." Hinter ihr habe ich die Tür abgeschlossen. Sie hat alle zwei Minuten an der Tür gerüttelt. Dann musste ich zur Toilette. Die Sekretärin stand vor der Tür. Sie war sehr verärgert. "Ich wusste, dass Sie im Büro sind! Ich wusste es!"

Eine Freundin sagt: "Für Männer sind Sekretärinnen Ersatzmütter. Die lassen sich betütteln. In modernen Partnerschaften werden sie ja nicht mehr betüttelt. Manche Sekretärinnen genießen das sogar." Ich sagte: "Es gibt auch den Typus der strafenden, der kastrierenden und der bösen Mutter." Damals habe ich übrigens gelernt, unter extremen Bedingungen zu arbeiten, deswegen liefere ich Woche für Woche zu jedem gewünschten Thema eine Kolumne, auch wenn's Steine regnet. Alles hat sein Gutes. Das ist meine Philosophie. Und jetzt? Kommen jetzt die Krankengymnastinnen dran? Ich kannte mal eine Krankengymnastin.

Lebenszeichen 2006: Harald Martenstein denkt über den aktuellen Zustand nach - inzwischen chronologisch archiviert "

© DIE ZEIT, 19.10.2006 Nr. 43