"Die Seiten wechseln"

Unser Kolumnist holt seinen Sohn ab, der ein Jahr lang in Australien war und sinniert über das Elternsein

Am 23. Dezember werde ich mit dem letzten Zug von Berlin zum Frankfurter Flughafen fahren. Irgendwann nach Mitternacht werde ich ankommen, irgendwo auf dem Flughafen werde ich mir ein bequemes Plätzchen suchen und irgendwie warten. Um fünf Uhr morgens kommt mein Sohn aus Australien zurück, nach einem halben Jahr als Gastschüler. Auf den Fotos, die er in letzter Zeit geschickt hat, war ein breitschultriger Surfertyp zu sehen. Mal hält er auf den Fotos ein Mädchen im Arm, mal trinkt er aus einer Bierflasche. Er wird inzwischen wohl ziemlich erwachsen sein.
Vorletzte Weihnachten war er noch ein Kind, letzte Weihnachten, na ja, so dazwischen. Wenn er wieder da ist, macht er den Führerschein.
Als er geboren wurde, änderten sich meine Gewohnheiten, und mein Bekanntenkreis sortierte sich neu. Wie bei allen. Leute, die Kinder haben, und Leute, die keine Kinder haben, das sind bekanntlich zwei verschiedene Stämme mit verschiedenen Riten. Egal, zu welchem der beiden Stämme man gehört, manchmal beneidet man heimlich die anderen. Und manchmal verachtet man sie auch. Nun habe ich also wieder die Seite gewechselt. Ich muss nicht mehr viel Rücksicht nehmen, ich könnte, wenn ich daran interessiert wäre, mich noch einmal ins Nachtleben stürzen, ich kann in Urlaub fahren, wann ich möchte, ich muss keine Geburtstage mehr mitorganisieren und mir kein Unterhaltungsprogramm fürs Wochenende mehr ausdenken, all das. Frei!
Aber ich bin darüber nicht glücklich. Die Zeit, in der die Kinder aufwachsen, hat einen Zauber, man denkt an all die Laternenumzüge, an die Schlittenfahrten und an die langen Nachmittage auf Sportplätzen mit einer ähnlichen Sehnsuchtswehmut zurück wie an die erste Liebe oder die eigene Schulzeit, sogar an die durchwachten Nächte, in denen man ein schweißnasses Händchen gehalten hat. Auch in der Schulzeit ist man oft unzufrieden oder leidet, aber wenn es vorbei ist, mit einigem Abstand, erkennt man meistens, dass es eine der besten Zeiten des Lebens war, ein einmaliges Abenteuer, dem nichts Vergleichbares folgen kann. Weil ich auch das Elternsein so sehe, muss ich immer an mich halten, wenn über die finanziellen Lasten des Kinderkriegens geklagt wird. Ich würde dann am liebsten aufspringen und rufen: "Verdammt noch mal, Kinder zu haben ist hunderttausendmal schöner als jede Fernreise und besser als jede Villa!" Wenn ich es mir überlege, keine einzige der wirklich guten Sachen im Leben gibt es umsonst. Es ist immer auch eine Last, zumindest manchmal, es macht immer auch Arbeit. Wer sich mit den Dingen des Lebens nicht belasten möchte, wird besser gar nicht erst geboren.
Die Kinderlosen bedauere ich. Sie sind dazu verdammt, ihr Leben lang dreißig Jahre alt zu bleiben. Solch ein Leben hat keinen Rhythmus, keine Jahreszeiten, es bleibt alles immer gleich, nur das Gesicht, das man morgens im Spiegel sieht, wird allmählich älter … nein. Halt. So arrogant habe ich vor drei, vier Jahren geredet. Ich habe ja die Seite gewechselt. Ich bin jetzt auch so.
Zu meinem leisen Bedauern habe ich nur einen einzigen Sohn, mit dem ich an Heiligabend wohl ein Bier trinken werde, während er von seinen Abenteuern in Übersee erzählt. Danach wird sich das, was von unserer Familie übrig ist, in alle Winde zerstreuen. Und ich werde darüber nachdenken, was nach der Kindheit, der Schule, der Uni, der Karriere, der Familie und der Elternzeit eigentlich an großen Erlebnissen noch übrig ist.

Von Harald Martenstein
Quelle DIE ZEIT, 23.12.2008 Nr. 01